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Abb.: Vivien Schwenke beim Familienbesuch in Vietnam, gemeinsamer Ausflug zur Königsstadt Hue, Zitadelle (Kaiserpalast und verbotene Stadt), Februar 2011.

Vivien Schwenke, Tochter von Nguyen Hong Trung und Christina Schwenke

Mein Vater kam mit 18 Jahren aus Hanoi in die DDR, wohnte in Rötha und arbeitete in der Region. Seine Geschichte beeindruckt mich sehr. Als kleines Kind sah er für mich nicht „anders“ aus als die Menschen im Umfeld. Ich nahm mich selbst auch nicht als „anders“ aussehend wahr. Aber ich erinnere mich, dass es in meiner Kindergartengruppe nur ein einziges weiteres Kind gab, deren Vater auch aus einem anderen Land kam.
Erst in der Grundschule wurde das Thema der Herkunft präsenter.
Mein Vater flog mit mir nach Vietnam, als ich zwei Jahre alt war. Wir besuchten dort seine Familie. Laut Erzählungen meiner Familie lernte ich in den sechs Wochen sehr schnell Vietnamesisch, verstand viel und konnte mich verständigen. Das ging leider später verloren. Mein Vater versuchte zwar ab und zu, Vietnamesisch mit uns Kindern zu sprechen. Aber es blieb im Alltagsstress nicht so viel Zeit für eine bilinguale Erziehung. Die Sprache gab es auch nicht als Schulfach oder AG, zu Sprachkursen hätten die Eltern uns auch hinbringen müssen. Die finanziellen Mittel und die Zeit dafür waren durch die selbstständige Tätigkeit der Eltern einfach nicht drin. Sie betrieben ein Bistro in Espenhain. Die Familie meines Vaters besuchten wir mehrmals. Wir waren in Hanoi im Norden Vietnams bei der Familie der Großmutter, in Da Nang bei der Familie des Großvaters und in Saigon, also Ho-Chi-Minh-Stadt beim Bruder meines Vaters. 2011, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters, besuchten wir dessen Familie in Vietnam, um gemeinsam trauern zu können. Das war das erste Zusammentreffen der ganzen Familie. Das war was ganz Neues und sehr Schönes, der Aufenthalt brachte uns als Familie eng zusammen. Es gab uns allen auch Trost. 2013 und 2016 waren wir noch einmal in Vietnam. Aber öfter können wir nicht dorthin reisen, die Flüge sind teuer und wir sind vier Personen. Die Verständigung klappte immer ganz gut. Meine Cousinen sprachen fließend Englisch, meine Großmutter etwas Französisch. Gestik und Mimik halfen auch zur Not weiter.
In meinem Umfeld hat niemand die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen auf dem Schirm. Nur in der Familie wurde darüber gesprochen. Meine Großeltern erzählten oft von ihren Kontakten zu vietnamesischen Arbeitern, mit denen sie viel gemeinsam unternommen hatten. Ich bekam schon früh mit, dass Vietnamesen als „F**s“ bezeichnet wurden, bis heute hält sich das. Das ist eine rassistische Beleidigung, deren Verwendung aber zu DDR-Zeiten wohl gang und gäbe war und von der Mehrheit leider als normal und harmlos empfunden wurde. Einmal wollten wir ein Fahrrad kaufen, verließen aber das Geschäft wieder, nachdem der Händler meinen Vater rassistisch beleidigte. Mir selbst wurden auch immer wieder verletzende Kommentare zugeworfen. Das passierte in der Schule, auch am Gymnasium. Ich empfand das als schockierend. In meinem Kopf war ich doch so wie alle anderen. 2015 schaukelte sich der Hass auf Geflüchtete hoch, und auch ich wurde beschimpft. Ein fremder Mann sagte auf der Straße zu mir, es gebe nur noch Flüchtlinge und Ausländer hier. Da reagierte ich zum ersten Mal aktiv und entgegnete: „Was wollen Sie von uns, wir sind hier geboren!“ Diese Erfahrungen aktivierten und bestärkten mich darin, mich mit meinem Hintergrund intensiver auseinanderzusetzen. Mittlerweile bin ich stolz auf diesen Teil und versuche, mehr Anschluss daran zu finden. Die vietnamesische Kultur ist ein Teil meines Vaters, den ich in meinem Leben auch beibehalten möchte. Mein Vater inspiriert mich dazu, Fremdsprachen lernen zu wollen. Deswegen plane ich einen einjährigen Aufenthalt in Vietnam. Ich möchte in Saigon bei meiner Familie leben, Vietnamesisch lernen und mir Arbeit suchen. In der Schule war Vertragsarbeit in der DDR kaum Thema. In einem Geschichtsbuch fand ich einst das Schlagwort „Vertragsarbeit in der DDR“, das war’s aber auch schon. Ich fand das schade und hätte gern mehr darüber erfahren. Es wäre auch wichtig, dass andere etwas darüber wissen. Ich nahm einmal an einem Geschichtswettbewerb teil und berichtete über die buddhistische Gemeinde in Leipzig. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich auch mit dem Hintergrund einiger Gemeindemitglieder, die als Vertragsarbeiter*innen in die DDR gekommen waren. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal was zu der Geschichte der Vertragsarbeiter*innen in dieser Region vermittelt bekam. Die Obst- und Gemüseläden oder Bistros hier sind für viele Einwohner*innen einfach da. Die Geschichte zu diesen Menschen wird jedoch ignoriert. Ich finde das aber sehr wichtig. Das Thema müsste in den Unterricht integriert werden. Es könnten auch Tafeln aufgestellt werden an Orten, wo Vertragsarbeiter*innen lebten und die Region mit aufbauten. Da sehe ich viele Parallelen zu den geflüchteten Menschen, die in der Gemeinschaftsunterkunft im Hotel untergebracht sind. Deren Geschichte und momentane Situation gerät jetzt schon in Vergessenheit. Die dort untergebrachten Menschen müssen mehr in das Stadtleben einbezogen werden. Ich bin im Jugendforum Rötha14 aktiv, wir streben die Schaffung einer solchen Begegnungsmöglichkeit an. Dafür haben wir bis jetzt noch keine passenden Räumlichkeiten gefunden. Die Mietkosten für die leer stehenden Räume der ehemaligen Sparkasse etwa können wir nicht aufbringen. Die uns zur Verfügung gestellten Räume im Heimatmuseum sind für unsere Treffen gedacht, aber nicht für öffentliche Veranstaltungen geeignet. Wir wünschen uns hierfür Unterstützung.

14 Die gemeinnützige Organisation möchte Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Möglichkeit geben, aktiv an der Gestaltung ihrer Umgebung mitzuwirken.

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